AM69 – Brief an Walter Gropius
Semmering Kurhaus, Donnerstag, 8. Juni 1911
8 Juni
Mein –
Mein Herz – warum schreibst Du nichts über den Sommer? Willst Du mich denn nicht sehen? –
Schreibe mir Deine Ansicht darüber – – Deine Wünsche!! — Ist es Dir vielleicht
unangenehm – in meinem Hause zu wohnen – dann sage es ruhig. —
Aber es ist nichts dabei: Ich werde den ganzen Sommer Gäste haben – weil ich mich aus Selbsterhaltungstrieb nicht in die Einsamkeit begeben will[.] —
Man muss sich auch da befreien . . . .
Aber fühlst Du, dass Du lieber anderswo wohnen möchtest – dann sag es ruhig – zwischen uns soll nie eine Phrase stehen[.] –
Über meine Gesundheit nun: —
Seit 9 Jahren bin
ich immer mehr u. mehr herunter gekommen – niemand dachte – aus Unverstand [–] an meinen Körper – auch ich nicht – Tobelbad war eigentlich das erste Mal, dass ich ausging, um mich zu heilen[.] —
Der Winter war glänzend – ich fühlte
mich jung und frisch – arbeitete – lebte unter Menschen[.] – Dann kam das Schwere[,] und mein Gefühl der Schuld G. G. gegenüber – (obwohl wir diesen Winter so gänzlich uns verstanden und uns das Leben gegenseitig versonnten –) ließ mich nun ein Opferleben beginnen, dass [!] die wenigsten Menschen aushalten könnten. Ich habe 3 Monate nicht geschlafen – ich war nur für ihn und seine Krankheit auf der Welt – aber meinen Lohn habe ich dahin[.] —
Seine Liebe wuchs ins Grenzenlose . . . .
Er dankte mir mit jedem Blick —
und als es vorüber war – brach ich zusammen. Ich hatte täglich abends gefiebert[,] ohne es zu bemerken – plötzlich wurde es bemerkt, [,] unser allererster Internist[,] steckte mich ins Bett – auch hier noch lag ich bis vor ein paar Tagen[.] – Meine Fieber sind weg – und ich will jetzt, nachholen – was ich in 9 Jahren versäumt habe – nämlich gesund werden. Ich sehe entschieden schon besser aus. Ich habe die Empfindung, als sei ich Jahre lang in einem Expresszug gefahren u. plötzlich – mit einem Ruck ist der Zug stehen geblieben – und ich weiß noch nicht so recht — wo!!!
Von den Unruhen u. der Nervosität meines Ehelebens macht sich kein Mensch einen Begriff.
Die große Ruhe u. Schönheit hier – (ich lese ununterbrochen) haben mich eine Kluft von Jahren zwischen dem 18[.] Mai u. heute reißen lassen.
Langsam kommt Leben in mich und Sehnsucht[.] —
Sehnsucht nach – Dir!!! —
Ich habe Dir nach Timmendorf p.[oste] r.[estante] unter Deinem Namen, da Du mir keine Chiffre angabst[,] geschrieben[.] – Wirst Du zu mir kommen – ab 1. Aug. oder willst Du, dass ich Dich vorher irgendwo treffe – sage alles[.]
Ich liebe Dich[.]
Apparat
Überlieferung
, , , , , , , .
Quellenbeschreibung
1 DBl. (4 b. S.) und 2 Bl. (4 b. S.) – Briefpapier.
Beilagen
Umschlag, , – Dresden Hotel Bristol (Handschrift ) l Berlin W | Nicolsburgerplatz 4. G. IV | Herrn Walter Gropius (von durchgestrichen) | 12/6 Berlin Wilmersdorf | Nikolsburgerpl. (unbekannte zeitgenössische Handschrift) | 10/6 Dresden (andere unbekannte zeitgenössische Handschrift); PSt. 1 (lt. , S. 803, i 7d1): SEMMERING [1] | 8.VI.11 – 9 | b; PSt. 2: WILMERSDORF b. Berlin | ENTLASTET | 10.6.11 | * 78 *; von WG mit einer 25 versehen (Zur Nummerierung von Alma Mahlers Briefumschlägen); von der Post mit einer großen „20“ in blauem Buntstift beschriftet, daneben mit „Porto“ gestempelt, darunter ein Namenskürzel oder Ziffer in grünem Buntstift. Hinweis auf Nachsendegebühr oder unzureichende Frankierung (Gewicht höher als 20g), frankiert nur mit 10 Heller; rückseitig: Kurhaus Semmering (Handschrift AM) | nachs. Berlin | Nicolsburgerplatz 4. G IV | Haasler. | nachs. Dresden Hotel Bristol | Penzig 10/6 (unbekannte zeitgenössische Handschriften).
Druck
, S. 1224, bei Anm. 327 (Auszug in engl. Übersetzung).
Korrespondenzstellen
Antwort auf WG140 vom kurz vor und am 4. Juni 1911 (hat Deine Gesundheit ernstlich gelitten?): meine Gesundheit nun. Beantwortet durch WG142 vom 12. oder 13. Juni 1911 (Ich schrieb Dir einen ausführlichen Brief am vorigen Donnerstag, wenn gerade der verloren ging, täte es mir leid vor allem bald): warum schreibst Du nichts über den Sommer? […] Schreibe mir Deine Ansicht darüber – – Deine Wünsche!! und WG143 vom 12. oder 13. Juni 1911 (Hast Du mir alles gesagt, was Chwostek [!] fand? Sei vorsichtig, wolle gesund werden, die 8 9 Jahre Ehe […] mit ihren unerhörten Anstrengungen […] \können/ nicht spurlos vorübergegangen sein): Chvostek[,] unser allererster Internist[,] steckte mich ins Bett […] und ich will jetzt, nachholen – was ich in 9 Jahren versäumt habe und WG145 vom 13. oder 14. Juni 1911 (Sei nicht bitter Du hast es nicht nötig irgendwie \vergangenes/ zu bereuen denn arm war Dein Leben niemals und das eine oder das andere entbehren müssen wir Menschen): Seit 9 Jahren bin ich immer mehr u. mehr herunter gekommen […] und mein Gefühl der Schuld […] Gustav gegenüber […] ließ mich nun ein Opferleben beginnen […] aber meinen Lohn habe ich dahin.
Datierung
Schreib- und Absendedatum: „8 June, postmarked 8 June 1911“ (, S. 1224, Anm. 327).
Datiert durch AM und Poststempel: 8[.] Juni 1911. Durch die Weitersendung nach Dresden erreichte AM69 (geschrieben am 8. Juni 1911) WG erst nach AM70 (geschrieben am 10. Juni 1911). Hieraus resultierte WGs differente Nummerierung zu AMs Schreibchronologie auf den jeweiligen Briefumschlägen.
Übertragung/Mitarbeit
(Manuel Tietz)
(Fabian Müller)
Seit 9 Jahren – Dauer von und Ehe, Heirat am 9. März 1902.
18[.] Mai – Todestag .
geschrieben – AM68 vom 3. Juni 1911 wurde am 6. des Monats mit präziser Straßenangabe nach Berlin nachgesendet.